INDIVIDUATION

C.G. Jung

Individuation ab der Lebensmitte bedeutet nach C.G. Jung die Entfaltung des religiösen Bewusstseins. Damit verbunden ist die Konfrontation mit dem Schatten und die damit verbundene Erfahrung von Schwachheit und Begrenztheit. Der Individuationsprozess verlangt die aufrichtige Konfrontation mit den Inhalten des Unbewussten, dabei wird manche Selbstüberschätzung aufgedeckt. Er hält Dunkelheiten und schmerzliche Einsichten bereit, die zur Bescheidenheit zwingen.

Die Individuation des Einzelnen kann zwei typische, jedoch einander entgegengesetzte Wege einschlagen:

  1. Ist der geistige, transzendente Aspekt des Lebens vernachlässigt worden, so liegt das Ziel in der Intensivierung des Bewusstseins durch vertiefte Einsicht in seelisch-geistige Gesetzmässigkeiten und Zusammenhänge. Im konkreten Leben geht es um das Opfer der unreflektierten, emotionalen Lebensweise. Voraussetzung dazu ist die zuvor stattgefundene Entwicklung eines Ich-Bewusstseins. Das bedeutet bewusst Konflikte zu analysieren, das Leiden an den Gegensätzen auszuhalten, Anerkennen von Grenzen, damit verbunden die Übernahme von eigener Verantwortung für anstehende Entwicklungen.
  2. Ist umgekehrt das Bewusstsein von den Instinkten abgeschnitten, geht es um das Annehmen und Gestalten der Realität, um eine Rückverbindung zum Natürlichen und die Beziehung zum Nächsten. Dies bedeutet nicht selten das Opfer einseitiger Intellektualität, von «Kopflastigkeit», von Kontrolle abgeben müssen sowie das Wahrnehmen und Anerkennen von transzendentem Geschehen. Es mag in diesem Zusammenhang wichtig sein mit Träumen, Mythen und Märchen zu arbeiten, zudem dem Körper vermehrt Aufmerksamkeit zu schenken.

Beide Wege beschreiben archetypische Grundsituationen auf allen Stufen der Kultur sowie des Einzelnen, weshalb sie als zwei immer wiederkehrende Varianten in der Mythen- und Märchensymbolik vorkommen. Einmal ist es die Aufgabe des Helden/der Heldin, das Tier (Instinktsymbol) zu besiegen oder zu opfern, um den Schatz zu gewinnen, das andere Mal unter eigener Gefahr das Tier zu schützen und zu ernähren, worauf es ihm bei der Suche nach dem Schatz hilfreich zur Seite steht.

Das Ziel der Individuation wird von uns, aufgrund seiner transzendenten uns überragenden Wirklichkeit nie vollständig erfasst und wegen seiner Grenzenlosigkeit nie vollständig gelebt werden können. Jung schreibt dazu:
«Die grossen Lebensprobleme sind nie auf immer gelöst. Sind sie es einmal anscheinend, so ist es immer ein Verlust. Ihr Sinn und Zweck scheint nicht in ihrer Lösung zu liegen, sondern darin, dass wir unablässig an ihnen arbeiten. Das allein bewahrt uns vor Verdummung und Versteinerung.»